1. - 22. dezember 2006
thomas moritz müller
ich fürchte mich nicht
der moment danach ... ist die furcht davor
verkündigung an maria - inszenierung eines augenblicks
1. dezember 2006 einführung: marie luise völter
musik: jim franklin, shakuhachi
der engel erschien und sprach.
maria erwiederte.
jetzt ist die bühne leer.
was geschah in jener sekunde, da die botschaft verkündet war?
der moment danach … ist die furcht davor
installation von thomas moritz müller, esslingen
im münster st. paul , esslingen
der evangelist lukas berichtet:
im sechsten monat wurde der engel gabriel von gott in eine stadt in galiläa
namens nazaret zu einer jungfrau gesandt. sie war mit einem mann namens
josef verlobt, der aus dem haus david stammte. der name der jungfrau
war maria. der engel trat bei ihr ein und sagte: sei gegrüßt,
du begnadete, der herr ist mit dir. sie erschrak über die anrede
und überlegte, was dieser gruß zu bedeuten habe. da sagte
der engel zu ihr: fürchte dich nicht, maria; denn du hast bei gott
gnade gefunden. du wirst ein kind empfangen, einen sohn wirst du gebären:
dem sollst du den namen jesus geben. er wird groß sein und sohn
des höchsten genannt werden. gott, der herr, wird ihm den thron
seines vaters david geben. er wird über das haus jakob in ewigkeit
herrschen, und seine herrschaft wird kein ende haben. maria sagte zu
dem engel: wie soll das geschehen, da ich keinen mann erkenne? der engel
antwortete ihr: der heilige geist wird über dich kommen, und die
kraft des höchsten wird dich überschatten. deshalb wird auch
das kind heilig und sohn gottes genannt werden.
dies ist die nüchterne beschreibung eines dramatischen geschehens.
thomas moritz müller aber stellt dazu neue fragen. blieb maria wirklich
so „cool“, wie es der erzähler berichtet? oder vollzog
sich das ganze geschehen möglicherweise doch ein wenig emotionaler?
vielleicht kommen wir dem ereignis „mariä verkündigung“ ja
näher, wenn wir uns ganz unaufgeregt die frage leisten: was wäre,
wenn der engel wiederkäme – heute, hier, jetzt?
die installation der moment danach … ist die furcht davor verlegt das biblische geschehen in ein raum-zeit-gefüge, das dem heute näher ist als dem gestern und doch an die bekannten traditionellen bilder der kunstgeschichte anknüpft. ein von säulen umfasstes zimmer, ein gefliester boden, einige wenige einrichtungsgegenstände – in solchem interieur vollzog sich in der kunst der renaissance das verkündigungsgeschehen.
fast genauso ist es bei dieser installation – wären da nicht die zugemauerten ausgänge, wäre da nicht der von zeit zu zeit zum leben erwachende computerbildschirm, wären da nicht die eigenartig geformten möbel und wäre da nicht der geheimnisvolle besucher, der tagtäglich den ort aufsucht und auf einer eigens für ihn aufgestellten bank platz nimmt, um nach einiger zeit verrichteter oder unverrichteter dinge wieder zu gehen.
thomas moritz müllers installation „der moment danach … ist die furcht davor“, zeigt »mariä verkündigung« in der sekunde danach: der engel ist wieder gegangen. die bühne ist leer. wo ist maria? hat das erzählte überhaupt stattgefunden? atmet der ort noch wenigstens die erinnerung an das ereignis? oder ist alles nur eine behauptung, eine inszenierte täuschung, ein „fake“, wie es in der sprache der web-kultur heißt? zumal sich die installation - als gäbe es alle 24 stunden einen neustart - wie bei einem computerspiel, kurzzeitig in eine inszenierung verwandelt.
helga müller-schnepper
fotos: felix muntwiler 2006 ©